Eine weit verbreitete Meinung ist, dass Kunst etwas mit Können zu tun hat. Das ist auch zutreffend, denn wer nicht in der Lage ist, die Leinwand vom Pinsel zu unterscheiden, wird in der Produktion dessen, was gemeinhin als „Kunst“ gilt, wohl auf Probleme stoßen.
Handwerkliches Können ist insofern gefordert, als dass eine klassische Ausbildung in Farblehre, Zeichnen, Bildaufbau und Ikonographie hilfreich ist. Aber Kunst hat viel mehr mit Sehen zu tun – denn es ist letztendlich der Rezipient, der Betrachter, der entscheidet, was Kunst ist (und der Markt, der aber in der Hand der Betrachter ist).
Sehen als physischer Akt
Sehen heißt, dass etwas mit den Augen wahrgenommen wird. Diese Wahrnehmung wird in Form elektrischer Signale über die Nervenbahnen an das Gehirn weitergegeben. Dort werden die Signale in Informationen zu Helligkeit, Kontrast, Farbe und aufgrund deren Beschaffenheit in Entfernung und Größenrelationen zurückübersetzt.
Das Ergebnis ist das „Bild“, das wir sehen und (dank weiterer Nervenbahnen, ganz vieler im Gedächtnis gespeicherter Informationen und einer unbewussten Denkleistung) erkennen.
Projektion eines anamorphen Bildes: 1) aufzunehmendes Objekt; 2) negative Zylinderlinse; 3) positive Zylinderlinse; 4) sphärisches Objektiv; 5) Aufzeichnungsfilm
Aber was ist, wenn die Informationen, die das Auge wahrnimmt, mit keiner gespeicherten Wahrnehmung übereinstimmt, wir also „nichts erkennen“?
Dann handelt es sich vermutlich um ein Kunstwerk, dessen Erschaffer nicht nur handwerkliches Können mitbrachte, sondern zudem um das Schaffen von Illusionen wusste. In diesem Kontext ist die anamorphe Kunst zu sehen.
Lange Tradition
Anamorphosen sind keine Erfindung des 20. Jahrhunderts, sondern gehen auf eine lange Tradition zurück. Seit 1657 bezeichnet man Bilder, die man nur aus einem bestimmten Blickwinkel erkennen kann, die einen Spiegel, ein Prisma oder ein ähnliches verzerrendes Hilfsmittel zum Erkennen benötigen, als Anamorphose. Natürlich gab es bereits vorher anamorphe Kunst, sie wurde lediglich nicht nachweislich als solche bezeichnet.
Das Wort kommt aus dem Griechischen und bedeutet übersetzt Umformung. Eine anamorphische Illusion ist ein Bild, das so verzerrt wurde, dass es mit bloßem Auge nicht erkennbar ist. In italienischen Kirchen des 17. Jahrhunderts finden sich viele Darstellungen, die nur aus einem bestimmten Blickwinkel oder mithilfe eines Spiegels oder eines Prismas erkennbar sind.
Die Technik (und genau darum handelt es sich: technisches Können) wurde genutzt, um Verbotenes darzustellen. Erotische Szenen, versteckte Botschaften und Anspielungen konnten so untergebracht werden, ohne dass Repressalien zu fürchten waren. Während der Renaissance wurden anamorphe Illusionen bei Deckengemälden eingesetzt, um Unregelmäßigkeiten im Untergrund so auszugleichen, dass sich dem Betrachter ein ebenmäßiges Bild bot.
Alte Schinken?
Nein, wirklich nicht! Anamorphe Illusionen werden in der zeitgenössischen Kunst auf ganz erstaunliche Art und Weise umgesetzt. Neben mehr oder minder schlichten Anamorphosen, die (zum Teil mithilfe technischen Geräts) gezeichnet werden, arbeiten einige Künstler mit Rauminstallationen, die ganz verblüffend ausfallen. Einzelne Teile der Installation sind irgendwo im Raum angebracht, und der Betrachter sieht keinen Zusammenhang der Teile untereinander.
Das sich bietende Bild mutet wie ein Puzzle an, dessen Teile verstreut herumliegen. Steht man jedoch an der richtigen Stelle des Raums, fügen sich die einzelnen Teile zu einem erkennbaren Bild, einer Textbotschaft oder einer erkennbaren Skulptur zusammen.
Wirklich interessant werden anamorphe Illusionen aber erst, wenn Künstler auf mehreren Ebenen arbeiten – wenn Textbotschaften Anspielungen enthalten, die der Betrachter entschlüsseln muss, wenn die entzerrten Installationen oder Bildwerke selbst aus einer Illusion oder einem weiteren Rätsel bestehen.
Beeindruckende Werke
In den nachfolgenden Videos können Sie sich eine Kostprobe an verblüffenden Illusionen durch anamorphe Kunst gönnen:
Wirklich beeindruckend ist auch der anamorphe Medusa von Truly Design. Das gigantische, in den Raum gemalte Porträt aus der griechischen Mythologie ist einzig und allein aus einer Perspektive wahrnehmbar. Dasselbe gilt für die Typografie von Joseph Egan.
Was auf den ersten Blick wie wirre, verzerrte Malereien an Wänden und Decke erscheint, offenbart sich nur aus einer einzigen Perspektive als perfektes, typografisches Konstrukt. Weiter ist auch die anamorphe Street Art des kanadischen Künstlers Panya Clark Espinal unbedingt zu nennen, der optische Illusionen in den Straßenzügen Torontos platziert. Fotos von diesen außergewöhnlichen Werken sehen Sie bei Urban Comfort.
Zuletzt ist da noch Jonty Hurwitz alias der “Artist Scientist Archetype“, wie er sich selbst gerne nennt. Bei diesem Künstler offenbaren sich die Kunstwerke erst im Spiegelbild von Zylindern. In verschiedenen Werken variiert er das Prinzip seiner anamorphen Skulpturen, um sie entweder alleinstehend oder als Teil größerer Werke in unterschiedlichen Umgebungen zu inszenieren.
Zu seinen aktuellen Arbeiten gehört etwa auch “Yogi blanker”, die – von Fotografien in Prints umgesetzt – in der Saatchi Gallery zu bekommen sind. Mehr zu seinen Werken erfahren Sie bei Art School Vets.
Kunstvolle Illusionen selber machen
Falls Sie nun wirklich auf den Geschmack gekommen sind und auch etwas künstlerisches Blut in Ihnen fließt, dann werden Sie jetzt vielleicht Lust haben, sich selbst mal an einer anamorphen Illusion auszuprobieren. Dann helfen Ihnen bestimmt diese Video Tutorials weiter:
Viel Spass beim Ausprobieren!
Inhaber und Geschäftsführer von Kunstplaza. Publizist, Redakteur und passionierter Blogger im Bereich Kunst, Design und Kreativität seit 2011. Erfolgreicher Abschluss in Webdesign im Rahmen eines Hochschulstudiums (2008). Weiterentwicklung von Kreativitätstechniken durch Kurse in Freiem Zeichnen, Ausdrucksmalen und Theatre/Acting. Profunde Kenntnisse des Kunstmarktes durch langjährige journalistische Recherchen und zahlreichen Kooperationen mit Akteuren/Institutionen aus Kunst und Kultur.