Gerade beim Künstler Jonathan Meese scheint der Gedanke seine Bestätigung zu finden, dass die Kenntnis der Künstler-Biographie notwendig oder zumindest hilfreich sein kann, um dem Werk eines Künstlers näherzukommen. Denn das Werk Jonathan Meese ist alles, aber bestimmt nicht leicht zu verstehen, und sein Lebensweg gibt dem Rezipienten tatsächlich Hinweise darauf, warum das so ist – und so sein soll.
Jonathan Meese ist ein international geprägtes Kind, geboren 1970 in Tokio, mit einer deutschen Mutter und einem englischen Vater. Schon im Kleinkindalter trennten sich die Eltern, die Mutter kehrte mit Jonathan und seinen zwei älteren Geschwistern nach Deutschland zurück, der Vater blieb in Japan.
Schnell erfuhr das Kind seinen ersten Kulturschock: Der kleine Jonathan sprach nur Japanisch und hatte als “Ausländer” in der Schule erhebliche Anpassungsschwierigkeiten. Die er auf der Grundschule, zumindest was die Kommunikationsfähigkeit angeht, nachweislich überwinden konnte, für die Hochschulreife reichte es auf jeden Fall, Meese legte 1989 sein Abitur an einem Gymnasium im neuen Heimatort Ahrensburg ab.
Welche Annäherung an den Ernst des Lebens nun folgen sollte, war Meese zu dieser Zeit jedoch offensichtlich weniger klar, nach eigener Aussage war er ein totaler Spätentwickler und “sei im Alter von 22 wie 16 gewesen” (www.youtube.com/watch?v=a389rSne2t0).
So schickte ihn seine Mutter nach dem Abitur erst einmal nach Schottland, um englisch zu lernen, Meese hatte aber nach seiner Rückkehr immer noch keine Ahnung, was er tun sollte. Also meldete seine Mutter ihn für ein Studium der Volkswirtschaft an, das der folgsame Sohn auch aufnahm, Brigitte Meese sah aber selbst schnell ein, dass das “ein totales Desaster war“ (Die Weltwoche, Ausgabe 26/2006 vom 2. Februar 2013).
Im Alter von 22 hatte Jonathan Meese zum ersten Mal eine eigene zukunftsweisende Idee und wünschte sich zum Geburtstag einen Zeichenblock und Malutensilien, nicht zur Begeisterung seiner alleinerziehenden und mit dieser Erziehung auch finanziell allein belasteten Mutter.Der Sohn setzte sich jedoch durch, es folgten Zeichenkurse an der Volkshochschule, ein Zimmer voll Staffeleien und großen, bemalten Leinwänden (Meeses Bett musste aus Platzmangel ins Wohnzimmer wandern) und wenig später die etwa drei Tage dauernde Anfertigung einer Mappe, mit der er sich an der Hochschule der Bildenden Künste in Hamburg bei Prof. Franz Erhard Walter bewarb und auch sofort angenommen wurde.
Meese studierte von 1995 bis 1998, ganz im Glauben an die Menschen, die ihm gesagt hatten, auf der Hochschule könne man Kunst lernen. Vielleicht hatte er die Anpassungsschwierigkeiten der frühen Jahre noch nicht ganz überwunden, vielleicht hat er auch nur seinen eigenen Kopf benutzt, auf jedem Fall dämmerte ihm recht schnell, dass er auf diese Weise der Kunst nicht näher kommt.
Das ganze Unternehmen Studium endete mit einem Abgang ohne Abschluss und der Überzeugung Meeses, dass man sich als Künstler die Möglichkeit erhalten müsse, das System zu kritisieren.
Sein Erfolg war ohnehin nicht mehr aufzuhalten, mehrere Insider und Experten in seiner Umgebung hatten Meese inzwischen als außergewöhnliche Begabung entdeckt. Bereits im Winter 1996 kann er an dem Ausstellungsprojekt „Glockengeschrei nach Deutz“ teilnehmen, ein Gemeinschaftsarbeit von über 40 Künstlern, organisiert unter anderem von der Künstlerin Cosima von Bonin und Daniel Buchholz von der gleichnamigen Galerie in Köln.
1997 folgt im Kunstverein Kehdingen seine erste Einzelausstellung, dann kam schon der Auftrag für die Bühnenbilder von Leander Haußmanns Film Sonnenallee. Auf Anregung von Daniel Richter kam Meese 1998 mit den Galeristen Nicole Hackert und Bruno Brunnet von der Berliner Galerie „Contemporary Fine Arts“ in Kontakt und unter Vertrag, CFA ist bis heute seine Galerie.
Meese erringt nun auch international zunehmende Aufmerksamkeit, 1998 auf der Berlin Biennale und im gleichen Jahr auf Ausstellungen in wichtigen europäischen Kunststädten, ab der Jahrtausendwende folgen internationale Ausstellungen und ab 2004 Theaterarbeiten, 2006 wird Meese erstmals zu den hundert bedeutendsten Künstlern der Welt gezählt.
Neben einer unaufhörlich fortlaufenden Reihe von Ausstellungen arbeitete Meese auch öfter mit Kollegen zusammen, 2006 im Werkzyklus „Die Peitsche der Erinnerung“ mit Daniel Richter, 2009 für „Fleisch ist härter als Stahl“ mit Herbert Volkmann, auch mit Tim Berresheim, dem Komponisten Karlheinz Essl, Jörg Immendorff, Albert Oehlen und dem dänischen Künstler Tal R hat er Kunst gemacht.
Inzwischen wurden seine Arbeiten von wichtigen Museen und öffentlichen Sammlungen für zeitgenössische Kunst angekauft, z. B. das Museum Abteiberg in Mönchengladbach, das Frankfurter Städel Museum, die Bonner Sammlung zeitgenössischer Kunst der Bundesrepublik Deutschland und das Pariser Centre Pompidou sicherten sich ihren Anteil an Meeses Werk, und in privaten Sammlungen moderner Kunst ist eine Meese-Arbeit auch gerne gesehen, so z. B. in der Sammlung Falckenberg, in der englischen Saatchi Gallery und in der Sammlung Essl in Österreich, die Berliner CFA ist auch längst nicht mehr Meeses einzige Galerie.
Seitdem macht Meese auch immer wieder in der Öffentlichkeit von sich reden und wird von der Presse gleichbleibend widersprüchlich konnotiert, mal als Künstler der totalen Randale und mal als Wunderkind. Sein Werk und seine Äußerungen dazu lassen alle Formen der Annäherung offen …
Sie können sich also dafür entscheiden, seine Kunst als unreife Spinnerei und seine Äußerungen als provokantes Propagandageschrei abzutun, wie es viele echte oder vermeintliche Kunstkenner tun. Sie könnten jedoch auch etwas genauer hinschauen und Ihren Spaß an der meesischen Sicht der Dinge und seinen unbeeinflussten und kritischen Äußerungen über den kommerziellen Kunstbetrieb haben, wie viele unabhängige Köpfe es machen.
Wenn Meese bei SPIEGEL-Gespräch in der Kasseler Universität von „‚ich-versauten Typen‘ und ‚ich-versautem Dünnpfiff'“ spricht, erinnert das documentamüde Querdenker durchaus an die kluge Zeile aus Sophie Hungers Song “Das Neue”, nach dem ““30 das Neue 20, der Mann die neue Frau, Deutschland die neue Türkei, Nichtraucher die neuen Raucher” sind.
Sie können sich natürlich auch an die nicht wenigen Größen im Kunstbetrieb halten, von denen Jonathan Meese viel Zuspruch bekommt, und sich noch schnell eine seiner Arbeiten als Investition sichern.
Ob die Beschäftigung mit der Biographie tatsächlich zu einem besseren Verständnis der Kunst führen wird, scheint in diesem Fall also im Wesentlichen eine Sache des Herangehens zu sein.
Immerhin ist der Kunstmarkt für unangepasste und nicht in Beziehungen eingebettete Newcomer inzwischen so klein geworden, dass wenig stromlinienförmige Kunst eine Erfrischung ist, und wir sollten sicher auch alle ein wenig darauf achten, dass sich Kunst auch in Zukunft nicht nur an der Kunst-Universität unter strikter Beachtung der gerade gängigen Lehre entwickeln kann, sondern dass noch Raum für begabte Außenseiter bleibt.
2016 wird Meese bei den 105. Bayreuther Festspielen übrigens die Oper Parsifal von Richard Wagner inszenieren, dann können wir uns endlich nicht nur mit der Kunst Meeses beschäftigen, sondern auch wieder einmal damit, ob Wagner – vor allem in Meeses künstlerischer Interpretation – wirklich zu Deutschland gehört.
Eines ist ziemlich wahrscheinlich: Je mehr Sie sich mit Meese beschäftigen, desto mehr Fragen werden auftauchen. Ist nicht genau das einer der wichtigsten Sinnbestimmungen von Kunst überhaupt?
Spannende Videoreihe zum kontroversen Künstler Meese:
Eine Ameise der Kunst
Passionierte Autorin mit regem Kunstinteresse