Tief verwurzelt in Landschaft, Geschichte und Handwerk hat sich im Erzgebirge eine Volkskunst entwickelt, die weit über regionale Grenzen hinaus bekannt ist. Aus Holz entstehen hier seit Generationen Figuren und Objekte, die vom Alltag der Menschen, vom Bergbau und von festlichen Bräuchen erzählen. Diese Kunstform ist kein museales Relikt, sondern ein lebendiger Ausdruck kultureller Identität, geprägt von Präzision, Symbolik und einem feinen Gespür für Tradition.

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Historische Wurzeln der erzgebirgischen Volkskunst
Die Ursprünge der erzgebirgischen Volkskunst liegen eng verknüpft mit dem Bergbau, der über Jahrhunderte das Leben der Region bestimmte. Als die Erträge aus dem Erzabbau schwankten oder zurückgingen, suchten viele Familien nach zusätzlichen Einkommensquellen. In den langen Wintermonaten entstanden so erste Holzarbeiten, zunächst einfache Gebrauchsgegenstände, später zunehmend figürliche Darstellungen.
Ursprünglich war die Holzschnitzerei ein Nebenerwerb der Bergleute, die nach Schichtende in der dunklen Jahreszeit ihr Geschick im Umgang mit Holz suchten.“
Das Schnitzen, Drechseln und Bemalen entwickelte sich zu einem festen Bestandteil des regionalen Handwerks. Über Generationen hinweg wurden Techniken, Motive und Formen innerhalb von Familien weitergegeben. Aus dieser Verbindung von Notwendigkeit, handwerklichem Können und kulturellem Ausdruck formte sich eine eigenständige Kunsttradition, die bis heute das Bild des Erzgebirges prägt.
Volkskunst heute: zwischen Tradition und Moderne
Auch heute ist die erzgebirgische Volkskunst fest im kulturellen Leben verankert. Viele Werkstätten arbeiten nach überlieferten Techniken, setzen jedoch zugleich neue Akzente in Form, Farbe oder Motivwahl. Die Herausforderung besteht darin, Tradition zu bewahren, ohne sie erstarren zu lassen. Moderne Interpretationen greifen zeitgenössische Themen auf, bleiben dabei aber dem handwerklichen Anspruch treu.
Museen, Ausstellungen und Sammler tragen dazu bei, diese Kunstform sichtbar zu halten und weiterzuentwickeln. Auch Kunsthändler spezialisieren sich auf den Ankauf von erzgebirgischer Volkskunst. So bleibt diese Kunstform ein lebendiger Bestandteil regionaler und kultureller Identität.
Besondere Handwerkskunst aus dem Erzgebirge
Es sind insbesondere zwei Techniken traditioneller Handwerkskunst, die das Erzgebirge auch weit über unsere Landesgrenzen hinaus berühmt gemacht haben:
Das Reifendrehen (Seiffener Spezialität)
Diese Technik ist eine absolute Weltbesonderheit und wird fast nur noch in Seiffen praktiziert. Dabei drechselt der Handwerker aus einem feuchten Fichtenholzstamm einen massiven Holzring. Das Besondere: Im Querschnitt dieses Rings verbirgt sich bereits das Profil eines Tieres (z. B. ein Hirsch oder Pferd).
Der Ring wird anschließend in schmale Scheiben geschnitten – wie bei einem Laib Brot. Plötzlich hält der Handwerker Dutzende identische Tierfiguren in der Hand, die nur noch fein nachgeschnitzt werden müssen.
Das Klöppeln
Während die Männer schnitzten, entwickelten die Frauen die Kunst des Klöppelns zur Perfektion. Mit bis zu 100 Holzklöppeln und feinstem Garn werden komplexe Spitzenmuster für Decken, Borten oder sogar erzgebirgische Trachten erstellt.
Barbara Uthmann gilt hierbei als historische Schlüsselfigur, die das Klöppeln im 16. Jahrhundert als Erwerbszweig etablierte.
Räuchermännchen: Figuren mit Charakter und Funktion
Räuchermännchen zählen zu den bekanntesten Erzeugnissen erzgebirgischer Volkskunst. Ihr Aufbau ist ebenso schlicht wie wirkungsvoll: Eine hölzerne Figur, meist zweiteilig, nimmt im Inneren ein Räucherkerzchen auf, dessen Duft durch eine Öffnung nach außen zieht. Charakteristisch ist die Darstellung alltäglicher oder regionaltypischer Figuren wie Bergleute, Förster, Händler oder Handwerker.
Jede Figur erzählt eine kleine Geschichte und spiegelt Lebenswelten wider, die einst das Erzgebirge bestimmten. Neben ihrer dekorativen Funktion erfüllen Räuchermännchen auch eine sinnliche Rolle, indem sie Gerüche verbreiten und Atmosphäre schaffen. Gerade diese Verbindung aus Nutzen, Humor und Detailverliebtheit macht ihren anhaltenden Reiz aus.
Nussknacker: Vom Werkzeug zum Symbol
Der Nussknacker hat seinen Ursprung als praktisches Haushaltsgerät, entwickelte sich jedoch rasch zu einem dekorativen Objekt mit starkem Wiedererkennungswert. Die meist aus Holz gefertigten Figuren zeigen markante Charaktere mit betonten Gesichtszügen und einem beweglichen Hebelmechanismus im Mundbereich.

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Typische Darstellungen reichen von Soldaten und Königen bis hin zu Bergmännern oder Fantasiefiguren. Im Laufe der Zeit trat die eigentliche Funktion des Nussknackens in den Hintergrund, während die symbolische und ästhetische Bedeutung wuchs. Heute stehen Nussknacker für handwerkliche Präzision, Tradition und eine Form von volkstümlicher Erzählkunst, die im Erzgebirge ihren festen Platz hat.
Licht und Bewegung: Schwibbögen und Weihnachtspyramiden
Da die Bergleute im Winter oft kein Tageslicht sahen (sie fuhren ein, bevor die Sonne aufging, und kamen heraus, wenn sie längst untergegangen war), wurde das „Licht“ zum zentralen Element ihrer Kunst.
Licht spielt in der erzgebirgischen Volkskunst eine zentrale Rolle und ist untrennbar mit den Lebensbedingungen der Region verbunden. Der Schwibbogen entstand aus der Bergbautradition und geht auf die letzte Schicht vor Weihnachten zurück, die sogenannte Mettenschicht. Als halbkreisförmiger Lichterbogen symbolisiert er den Ausgang aus dem Stollen und steht sinnbildlich für Hoffnung und Heimkehr.

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Sein Name leitet sich vom architektonischen „Schwebebogen“ ab. Die Lichter darauf symbolisierten ursprünglich die brennenden Grubenlampen, die die Bergleute am Ende ihrer letzten Schicht vor Weihnachten hufeisenförmig am Stolleneingang aufhängten.
Weihnachtspyramiden erweitern dieses Motiv um Bewegung. Durch die aufsteigende Wärme der Kerzen setzen sich ihre Flügel in Rotation und lassen Figurenkreise aus Engeln, Bergleuten oder biblischen Szenen lebendig wirken. Beide Formen verbinden handwerkliche Konstruktion mit symbolischer Tiefe und schaffen eine besondere Atmosphäre, die eng mit der Winter- und Weihnachtszeit verknüpft ist.
Bergmann, Engel und Miniaturen: die Welt im Kleinen
Zu den prägenden Motiven der erzgebirgischen Volkskunst gehören Bergmanns- und Engelsfiguren, die häufig als Paar auftreten. Der Bergmann steht für Arbeit, Disziplin und die historische Grundlage des regionalen Wohlstands, während der Engel Schutz, Licht und Zuversicht verkörpert. Ergänzt werden diese Figuren durch eine Vielzahl von Miniaturen, die Tiere, Alltagsszenen oder kleine Landschaften darstellen.
Besonders filigrane Arbeiten entstehen durch das sogenannte Reifendrehen, eine spezielle Drechseltechnik. In der Reduktion auf das Kleine entfaltet sich eine bedeutende erzählerische Kraft, die das Leben und die Werte der Region in verdichteter Form sichtbar macht.
Außergewöhnliche & weniger bekannte Handwerksformen
Neben den Klassikern gibt es zwei Kunstformen, die selbst Kenner immer wieder in Staunen versetzen:
Das Spanbaumstechen (der „gestochene“ Baum)
Ein Spanbaum ist ein kleines Wunderwerk der Präzision. Aus einem Stab Lindenholz werden mit einem speziellen Stecheisen hauchdünne Späne „gezogen“, die sich jedoch nicht vom Stamm lösen dürfen.
Der Künstler rollt diese Späne vorsichtig nach oben auf, sodass eine filigrane, lockige Tanne entsteht. Ein einziger falscher Schnitt ruiniert den kompletten Baum. Diese Bäumchen zieren oft die Pyramiden, sind aber als eigenständiges Handwerk eine der schwierigsten Disziplinen.
Die bergmännischen Geduldsflaschen (Eingerichte)
Ähnlich wie Buddelschiffe bauten Bergleute ganze Szenarien in Glasflaschen ein. Doch statt Schiffen findet man hier Miniatur-Bergwerke. In einer engen Glasflasche werden auf mehreren Ebenen Bergleute bei der Arbeit, winzige Förderanlagen und sogar kleine Kapellen dargestellt.
Jedes Teil wurde durch den schmalen Flaschenhals eingeführt und im Inneren mit Pinzetten und langen Drähten montiert. Es ist ein Symbol für die unglaubliche Geduld und die Liebe zum Detail der Erzgebirger.
Museumstipps: Handwerk live erleben
Wenn Sie bald mal dieser Region einen Besuch abstatten und kunsthandwerkliches Interesse mitbringen, sind folgende Orte ein absolutes Muss, um die Geschichte und die Herstellung zu verstehen:
- Spielzeugmuseum Seiffen (Seiffen): Das „Herz“ des Erzgebirges. Hier siehst du die gesamte Entwicklung der Spielwarenherstellung und kannst oft Handwerkern beim Reifendrehen über die Schulter schauen. Das gesamte Dorf Seiffen ist im Grunde ein lebendiges Freilichtmuseum.
- Manufaktur der Träume (Annaberg-Buchholz): eines der modernsten und faszinierendsten Museen der Region. Es zeigt die Privatsammlung von Erika Pohl-Ströher und setzt die Exponate (darunter riesige mechanische Heimatberge) wunderschön in Szene.
- Museum für Bergmännische Volkskunst (Schneeberg): Dieses Museum im beeindruckenden „Bortenreuther Haus“ konzentriert sich stark auf die Verbindung zwischen Bergbau und Schnitzkunst sowie auf die filigrane Technik des Klöppelns.
- Frohnauer Hammer (Annaberg-Buchholz): das älteste Schmiedemuseum Deutschlands. Hier erlebst du, wie das Eisen für die Werkzeuge der Schnitzer und Bergleute mit riesigen wasserbetriebenen Hämmern bearbeitet wurde.
Ein kleiner Geheimtipp zum Schluss: die „Heimatberge“
Wenn Sie zufällig in der Weihnachtszeit dort verweilen, achten Sie auf Heimatberge in Gaststätten oder Museen. Das sind oft meterlange, mechanisch betriebene Modelle der erzgebirgischen Landschaft, in denen sich dutzende kleine Figuren bewegen: Bergleute fahren in den Schacht ein, Schnitzer arbeiten in der Stube, und der Zug fährt durch das Tal.
Es ist wie das „Kino“ vergangener Jahrhunderte.
Ein lebendiges Kulturerbe aus Holz
Volkskunst aus dem Erzgebirge ist weit mehr als dekoratives Brauchtum. Sie erzählt von Geschichte, Arbeit und Gemeinschaft und verbindet handwerkliche Präzision mit symbolischer Aussagekraft. In ihrer Vielfalt und Beständigkeit steht sie für ein Kulturerbe, das bis heute fortwirkt und immer wieder neu interpretiert wird.

Inhaber und Geschäftsführer von Kunstplaza. Publizist, Redakteur und passionierter Blogger im Bereich Kunst, Design und Kreativität seit 2011. Erfolgreicher Abschluss in Webdesign im Rahmen eines Hochschulstudiums (2008). Weiterentwicklung von Kreativitätstechniken durch Kurse in Freiem Zeichnen, Ausdrucksmalen und Theatre/Acting. Profunde Kenntnisse des Kunstmarktes durch langjährige journalistische Recherchen und zahlreichen Kooperationen mit Akteuren/Institutionen aus Kunst und Kultur.










