Aktdarstellungen sind so alt wie die Kunstgeschichte selbst und haben über die Jahrhunderte hinweg immer wieder mit Tabus und Kontroversen zu kämpfen gehabt. Jeder Mensch, unabhängig von sexueller Orientierung oder Identität, reagiert auf visuelle und sexuelle Reize, die oft über konventionelle Grenzen hinausgehen. Soweit der wissenschaftliche Konsens.
Die Perspektiven und Ausdrucksformen des Nackten, Erotischen und Sexuellen in der Kunst haben sich von der Antike bis zur heutigen Zeit jedoch stark gewandelt. Sogenannte „freizügige“ Kunst kann wesentlich zu einer offeneren gesellschaftlichen Wahrnehmung des Sexuellen beitragen, indem sie tabufrei und aufklärend wirkt.
Seit dem 19. Jahrhundert scheint die Gesellschaft in Bezug auf erotische Bilder und Diskurse eine Entwicklung hin zu mehr Offenheit und Toleranz zu erleben (regionale Gegenentwicklungen ausgenommen); Auch verschiedene Geschlechteridentitäten dürfen sichtbarer ausgelebt werden, während Pornografisches nicht mehr hinter der „Ladentheke“ verborgen bleiben muss.
Die Entwicklung der erotischen Kunst seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war eng verbunden mit den wegweisenden Forschungen von Persönlichkeiten wie Sigmund Freud und Magnus Hirschfeld. Sie brechen gesellschaftliche Tabus auf und erweitern das Verständnis von Geschlechteridentitäten. Diese Erkenntnisse, zusammen mit sozialen Bewegungen wie der Studentenbewegung und der Legalisierung von Pornografie, förderten eine emanzipierte Wahrnehmung des Sexualitätsbegriffs, so Martin Seidel im aktuellen Band des KUNSTFORUM Magazins.
Filme wie Andy Warhols Blue Movie markierten Meilensteine in dieser Entwicklung und läuteten eine neue Ära der sexuellen Darstellung ein. Heute sind Kunstveranstaltungen zunehmend darauf ausgerichtet, offen, tabulos und informativ die Diskussion über Sexualität voranzutreiben.
Betrachten wir nur einmal die Performancekunst von Marina Abramović am Beispiel der Ausstellung Balkan Erotic Epic (Sean Kelly Gallery, NY, 2006). Dort präsentierte Marina Abramović mehrere Videoprojektionen, die den Einsatz von Sexualität und den menschlichen Körper in heidnischen Traditionen des Balkans beleuchteten. Durch die Erforschung serbischer Folklore entdeckte Abramovic historische Beispiele, wie Erotik zur Bewältigung alltäglicher Herausforderungen genutzt wurde.
Ein bemerkenswertes Beispiel sind Frauen, die bei zu starkem Regen in traditionelle Kostüme schlüpfen und alte Rituale nachspielen, um die Götter zu besänftigen. Diese Werke thematisierten in nachwirkender Form die Verbindung zwischen Folklore, Kultur und der Kraft der Sexualität.
Auf der anderen Seite wird bereits die Darstellung von Brustwarzen im Internet zensiert (siehe Facebook und Instagram), und KI-Chatbots brechen bei der Eingabe von Begriffen wie „Erotica“ die Antwort ab. Wie also darf das Nackte und der Akt tatsächlich im Bild deutlich werden?

herausgegeben von Martin Seidel
Dies bildet den spannungsreichen Hintergrund im Fokus des neuen KUNSTFORUM-Bandes N/AKT, herausgegeben von Martin Seidel. Ferner hält das FORUM dieses Bandes viele faszinierende Berichte und Gespräche mit Künstler*innen bereit. Unter anderem gibt es Gespräche mit dem aktuellen Star der Tanzszene, Isaac Chong Wai, sowie der einzigartig mit Geschlechteridentität und Herkunft arbeitenden Musikerin, DJ und Performancekünstlerin Juliana Huxtable.
Außerdem präsentiert die aktuelle Ausgabe die neue Kuratorin der documenta 16, Naomi Beckwith, das Redaktionsteam besuchte das Atelier von Tomasz Kręcicki in Krakau, reiste zur Biennale in Sharjah und nach Chemnitz zur Kulturhauptstadt, um das Projekt Purple Path zu erkunden.
Wie es treue KUNSTFORUM-Leser*innen gewohnt sind, sind ergänzend dazu zahlreiche fundierte Besprechungen aktueller Ausstellungen sowie ein Ausstellungskalender am Ende des Heftes zu finden.
Genießen Sie 320 Seiten hochwertige Kunstkritik. Prädikat: gehaltvoll.
Viel Freude beim Lesen!

Inhaber und Geschäftsführer von Kunstplaza. Publizist, Redakteur und passionierter Blogger im Bereich Kunst, Design und Kreativität seit 2011. Erfolgreicher Abschluss in Webdesign im Rahmen eines Hochschulstudiums (2008). Weiterentwicklung von Kreativitätstechniken durch Kurse in Freiem Zeichnen, Ausdrucksmalen und Theatre/Acting. Profunde Kenntnisse des Kunstmarktes durch langjährige journalistische Recherchen und zahlreichen Kooperationen mit Akteuren/Institutionen aus Kunst und Kultur.